Eine neue «Epidemie» setzt San Francisco zu

In keiner anderen amerikanischen Metropole gab es im vergangenen Jahr so viele Einbrüche wie in San Francisco, vor allem Autoeinbrüche setzen der Stadt zu. Politik und Polizei suchen Antworten.

Marie-Astrid Langer, San Francisco
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 In San Francisco haben auf Autoscheiben spezialisierte Garagen derzeit alle Hände voll zu tun. (Bild: Jeff Chiu / AP)

In San Francisco haben auf Autoscheiben spezialisierte Garagen derzeit alle Hände voll zu tun. (Bild: Jeff Chiu / AP)

Die Warnschilder stehen an jeder Ecke von San Franciscos berühmter Kurvenstrasse Lombard Street. «Verhindere Diebstahl – lass keine Wertsachen im Auto!», steht dort in Englisch. An Autoscheiben geklemmte Flugblätter warnen auf Französisch, Spanisch und Chinesisch vor Einbrüchen. Als brauchte es noch einen Beweis, ist der Boden mit Glassplittern von Autoscheiben übersät. Doch die Touristen scheinen von den Warnungen unbeeindruckt zu sein, sie posieren für Selfies, während Rucksäcke und Handtaschen gut erkennbar auf Autositzen liegen.

Fast keine Verhaftungen

Touristenattraktionen wie die Lombard Street sind zum Brennpunkt für ein Problem geworden, das San Francisco immer mehr zusetzt: In keiner anderen amerikanischen Metropole gab es laut dem FBI 2017 mehr Einbruchsdelikte pro Kopf. Vor allem Autoeinbrüche haben ein Ausmass erreicht, das die Bevölkerung von einer «Epidemie» sprechen lässt: 2017 verzeichnete die Polizei 31 122 Fälle eingeschlagener Autoscheiben, so viele wie noch nie und doppelt so viele wie 2012. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein – viele Betroffene machen sich nicht mehr die Mühe, die Polizei zu informieren. Denn diese scheint dem Problem machtlos gegenüberzustehen: Weniger als zwei Prozent der mutmasslichen Täter wurden 2017 verhaftet.

Der Polizeichef William Scott sagt, für viele Kriminelle seien Autoeinbrüche inzwischen «das Verbrechen der Wahl: einfach, wenig riskant und meist lukrativ». Die Täter zielten vor allem auf Touristen ab, weil sich diese in einer so wohlhabenden Stadt sicher fühlten, sagt Scott.

Das Vorgehen folgt oft dem gleichen Muster, wie Augenzeugenberichte und Videoaufnahmen belegen: Mehrere Täter umkreisen Touristen-Brennpunkte in einem Fahrzeug, das sie gemietet oder gestohlen haben, und spähen in parkierte Autos. Sobald sie Taschen auf Rücksitzen erblicken, springt einer aus dem Fahrzeug, schlägt die Scheibe ein und schnappt sich die Wertsachen. Innert weniger Sekunden ist das Ganze vorbei. «Es ist nicht einfach, die Täter zu ertappen», sagt auch Polizeichef Scott.

Laut einer Untersuchungskommission der Stadt stecken hinter 70 bis 80 Prozent der Autoeinbrüche Banden. Doch nicht nur gutgläubige Touristen sind ihre Opfer. In allen Wohnquartieren und Geschäftsbezirken gehören zerborstene Autoscheiben und Glassplitter auf dem Trottoir inzwischen zum Stadtbild. Auf Scheiben spezialisierte Garagen können sich vor Aufträgen kaum retten. Ein Manager der auf Autoscheiben spezialisierten Firma Safelite berichtet, dass die Filiale in San Francisco mit Abstand die meisten Aufträge von allen 7200 Niederlassungen im Land hätte. Ein Angestellter in einer Werkstatt im Mission-Viertel erzählt, manche Kunden sehe er jede Woche. Inzwischen rate er ihnen, die Fenster heruntergekurbelt zu lassen. So müssten die Täter wenigstens nicht mehr die Scheibe einschlagen, wenn sie ein Auto durchsuchen wollten.

Die Täter scheinen so selbstbewusst zu sein, dass sie sogar in Polizeifahrzeuge einbrechen. Von dort entwendete Schusswaffen tauchen bei anderen Straftaten wieder auf, so etwa beim Mord an einem 23-Jährigen im vergangenen Sommer.

Abstruses Gesetz

Eine Theorie für die massive Zunahme der Autoeinbrüche lautet, dass sich die Kriminalität schlichtweg verlagert habe. Seit immer mehr Amerikaner von frei verfügbaren Opiaten abhängig seien, sei der Handel mit illegalen Drogen weniger attraktiv geworden, sagt Max Szabo, der Sprecher des Bezirksstaatsanwalts von San Francisco. Zunächst seien die Fallzahlen von gewaltsamem Smartphone-Diebstahl in die Höhe geschnellt. Nachdem Handy-Hersteller wie Apple aber 2015 technische Vorkehrungen eingebaut hätten, mit denen sich ein Smartphone aus der Ferne blockieren lasse, seien die Diebstähle massiv zurückgegangen, sagt Szabo – dafür hätten die Autoeinbrüche stark zugenommen.

Das erklärt jedoch nicht, warum ausgerechnet in San Francisco das Problem derart gravierend ist. Szabo sagt, die Stadt sei im Gegensatz etwa zu Los Angeles eher klein und dicht besiedelt – die Täter könnten effizient vorgehen. Zudem können sie fast sicher sein, dass sie unbescholten davonkommen: Von den zwei Prozent der 2017 verhafteten mutmasslichen Täter wurde nicht einmal die Hälfte verurteilt – und wenn, dann oft zu geringfügigen Geldbussen.

Grund dafür ist eine abstrus anmutende Gesetzeslage in der Stadt: Kann die Staatsanwaltschaft nicht nachweisen, dass ein Auto abgesperrt war, zählt das Verbrechen als Ordnungswidrigkeit und wird mit geringfügigen Strafen geahndet. Die Geschädigten müssten unter Eid aussagen, dass sie das Fahrzeug abgesperrt hätten, damit das Vergehen als schwerere Straftat klassifiziert würde; und da die Opfer meist Touristen sind, geschieht das in der Regel nicht. Ein Gesetzesentwurf, der diese Beweislast aufheben wollte, scheiterte vor wenigen Tagen im Haushaltsausschuss des Stadtparlaments.

Schaden für den Tourismus

Das Problem schadet inzwischen auch dem Tourismus, einem der wichtigsten Wirtschaftssektoren der Stadt, an dem sie etwa 750 Millionen Dollar jährlich verdient. In Internetforen und in den sozialen Netzwerken empören sich Touristen inzwischen, dass ihnen aus dem Auto die Fotokamera mit Ferienfotos oder das Gepäck samt Pass gestohlen worden sei. «Uns machen die Autoeinbrüche grosse Sorgen, weil Besucher mit schlechten Erfahrungen nicht mehr wiederkommen werden», sagt Cassandra Costello, die beim Tourismusbüro San Francisco Travel im Bereich öffentliche Regulierung arbeitet. Auch zielten die Verbrechen speziell auf Besucher ab. Seit vergangenem Herbst untersagt es die Stadt Mietwagenfirmen, Werbung auf Fahrzeugen anzubringen oder diese irgendwie sonst als Mietautos erkennbar zu machen.

Die «Epidemie der Autoeinbrüche» ist nur eines von mehreren massiven Problemen, die San Francisco zunehmend zusetzen: Mit knapp 7000 Betroffenen zählt die Stadt zu den amerikanischen Metropolen mit den meisten Obdachlosen. Personen, die in Hauseingängen, neben Mülleimern und in öffentlichen Verkehrsmitteln schlafen, sind ebenso die Folge wie ein omnipräsenter Uringeruch.

Zudem ist zunehmender öffentlicher Drogenkonsum ein grosses Problem, denn beim Versuch, die Verbreitung von Infektionskrankheiten wie HIV zu verhindern, verteilt die Stadt gratis Spritzen an Abhängige, etwa sechs Millionen pro Jahr. Anders als beispielsweise in New York müssen diese die gebrauchten Spritzen aber nicht zurückbringen, um saubere zu bekommen. Folglich liegen gebrauchte Spritzen inzwischen zuhauf auf Trottoirs, in Parks und U-Bahn-Wagen. Die Stadt will nun für 750 000 Dollar im Jahr Arbeiter einstellen, die diese Spritzen wieder einsammeln sollen.

Neue Strategien der Polizei

Obdachlosigkeit, Drogenkonsum und Autoeinbrüche sind denn auch die grossen Themen bei der anstehenden Bürgermeisterwahl am 5. Juni. Mit Blick auf die Autoeinbrüche reichen die Vorschläge der Kandidaten von besserer Datenerfassung über härtere Strafen bis hin zu mehr Warnungen an Touristen.

Während die Politik noch im Wahlkampf steckt, testet die Polizei seit Anfang Jahr neue Taktiken gegen die Autoeinbrüche: Mehr Beamte patrouillieren in der Stadt zu Fuss, besonders an den bekannten Brennpunkten. Zudem wurde eine eigene Untersuchungseinheit für Einbrüche und Diebstähle geschaffen. Ziel ist es, kriminelle Banden aufzuspüren und ihnen mehrere Straftaten nachweisen zu können, auf die härtere Strafen stehen als auf einzelne Autoeinbrüche.

Die Zahlen für das erste Quartal stimmen optimistisch, die Fälle von Autoeinbrüchen sind im Jahresvergleich um 18 Prozent zurückgegangen. Das Wichtigste sei für ihn die Prävention, sagt Scott, weshalb die Polizei auch ihre Werbekampagne «Schlau parkieren» ausgebaut habe. Manche Schilder schlagen den Bürgern nun vor, selbst aktiv zu werden – wohl nicht ganz ernst gemeint: «Schliessen Sie das Auto ab, verstecken Sie Ihr Eigentum», steht dort, «und stellen Sie eine Taschenattrappe auf den Rücksitz, gefüllt mit Tausenden von giftigen Bienen.»